Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki (Foto) schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
In Gießen haben sich am letzten Wochenende sehr viele Menschen mit sehr unterschiedlicher politischer Ausrichtung an verschiedenen Orten versammelt. Das kommt in freien Gesellschaftsordnungen mitunter vor und ist erst einmal nichts Dramatisches. Man durfte das Vorhaben der AfD, eine neue Jugendorganisation zu gründen, aus tiefer Überzeugung ablehnen, aber die in der Hessenhalle versammelten Personen hatten jedes Recht, dies zu tun. Ebenso hatten die im Stadtgebiet versammelten Menschen jedes Recht, in öffentlichen Versammlungen laut kundzutun, dass sie damit ein erhebliches Problem haben.
Zweifellos führt das räumliche Aufeinandertreffen so unterschiedlicher Haltungen immer zu einer gewissen Anspannung im öffentlichen Raum. Das ist besonders für die Menschen belastend, deren Stadt „Gastgeber“ solcher Ereignisse ist. Aber das müssen wir aushalten, auch wenn es für alle Beteiligten – insbesondere die Ordnungsbehörden – herausfordernd ist. Hilfreich ist es da, wenn alle, die ihr Versammlungsrecht wahrnehmen, sich im Klaren über die Grenzen der Versammlungsfreiheit sind. Das war in Gießen leider nicht der Fall, auch wenn es mir wichtig scheint zu unterstreichen, dass die Mehrheit der Demonstranten diese Grenzen respektiert hat. Das Fehlverhalten einzelner Gruppen in Demonstrationen wird in der öffentlichen Debatte nicht selten genutzt, um den gesamten Protest zu delegitimieren. Man erinnere sich nur an die Anti-Maßnahmen-Demonstrationen zu Zeiten der Corona-Pandemie, wo die schrägsten und durchgeknalltesten Gestalten, die sich im Einzugsgebiet einer Demonstration aufhielten, mit größter medialer Aufmerksamkeit bedacht wurden und so ein Zerrbild all derer entstand, die sich aus gutem Recht gegen die Exzesse der Corona-Pandemiebekämpfung positioniert haben. Viele dieser Demonstrationen wurden sogar untersagt oder sogleich wieder abgebrochen. Deniz Yücel hat kürzlich einen klugen Text dazu in der „Welt“ veröffentlicht, wie oft die Exekutive Recht und Moral nicht mehr auseinanderhält; bei Corona-Demonstrationen, beim Compact-Verbot oder beim sogenannten Palästina-Kongress.
Diese Erwartung an den Staat, Recht und Moral nicht zu verwechseln, ist natürlich richtig. Es ist allerdings auch eine Erwartung, die wir an uns gegenseitig adressieren sollten. Insbesondere im Vorfeld zu den Ereignissen von Gießen schien mir das angezeigt. Denn wenn im Vorfeld schon unter dem Motto „Gießen soll brennen“ zu Demonstrationen aufgerufen wird, lässt das schon ahnen, dass Einzelne ihre Moral über unser gemeinsames Recht stellen wollen. Und so kam es dann auch. Eine nicht unerhebliche Zahl von Demonstranten hatte an diesem Wochenende nur ein Ziel: die Gründungsveranstaltung der AfD-Jugend zu unterbinden. Und das ist nun mal keine rechtmäßige Intention für einen Protest. Wenn in der Hessenhalle eine Veranstaltung stattgefunden hätte, die ihrerseits nicht rechtmäßig gewesen wäre, wäre es allein Aufgabe des Staates, dies zu unterbinden und nicht einer privaten Initiative, die unter dem anmaßenden Begriff der „Zivilgesellschaft“ die Gewalt auf die Straßen trägt.
Es ist gerade einmal zwei Monate her, dass das Bundesverfassungsgericht mit erfreulicher Klarheit die Grenzen der Versammlungsfreiheit klargestellt hat:
„Es ist für ein demokratisches Gemeinwesen von zentraler Bedeutung, dass das Recht, seine Meinung gemeinschaftlich mit anderen öffentlich kundzutun, nicht zum Mittel wird, um Menschen mit anderen Überzeugungen an der Wahrnehmung desselben Rechts zu hindern.“
Dieses Zitat aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts postete ich am Samstag in den sozialen Medien und verband dies mit dem zurückhaltenden Hinweis, dass jeder, der vorgibt, für die Demokratie zu kämpfen, seine eigene Rolle in dieser Demokratie bedenken möge. Das beinhaltet wohlgemerkt keine Aussage über den Gründungskongress bei der AfD oder den rechtmäßigen Protest dagegen, sondern ist ein recht zurückhaltender Hinweis auf die Rechtslage. Leider erwartbar haben sich unter diesem Post dann so ziemlich alle von ganz links bis ganz rechts versammelt, die ein sehr offenkundiges Problem mit der Differenzierung von Recht und Moral haben. „Unser Grundgesetz ist antifaschistisch“, stellten etwa die „Omas gegen Rechts Köln“ fest – offenbar in Verkennung des Umstands, dass man als aufrechter Demokrat immer antifaschistisch ist, aber als Antifaschist nicht zwangsläufig demokratisch ist. Die Biografien von Walter Ulbricht oder Erich Honecker könnten hier beim Verständnis helfen. Von rechts kamen die üblichen Vorwürfe, als FDP-Mann habe man kein Recht, sich so zu äußern, immerhin sei man ja für die Zustände verantwortlich. Und der Mediziner Cihan Çelik orakelte, dass es „bemerkenswert“ sei, „dass das hier alles ist“, was mir zur „Neugründung einer der rechtsextremen Jugendorganisationen“ einfalle. Wer sich derart von einem kurzen Zitat des Bundesverfassungsgerichts provozieren lässt, sagt mehr über sich selbst aus, als ihm lieb sein kann.
Das liegt vermutlich daran, dass das kurze Zitat ihr Rechtsempfinden in radikaler Weise infrage stellt. Gut so! Irgendwann müssen sie es ja lernen. Wer die eigene politische Haltung nicht vom geltenden freiheitlichen Rechtsrahmen abstrahieren kann, hat es in der Rechtsordnung unter dem Grundgesetz nicht gemütlich. Diese Abstraktion ist im Übrigen etwas, was wir von unseren Polizistinnen und Polizisten jeden Tag einfordern. Egal ob sie FDP, Grün, AfD oder links wählen, wir erwarten, dass Polizisten auch das Versammlungsrecht der jeweils anderen schützen. Wollen die Social-Media-Maulhelden diesen Polizeikräften erklären, dass sie sich ins Unrecht setzen, weil sie ihre Pflicht tun? Dass sie akzeptieren müssten, wenn auf sie in ihrer Pflichterfüllung losgegangen wird, wenn Flaschen, Steine oder Pyrotechnik fliegen?
Auch die sogenannte „vierte Gewalt“ muss sich nicht gefallen lassen, was Paul Ronzheimer dort bei Dreharbeiten für eine Sat.1-Reportage erleben musste: dass von der Bühne dazu aufgerufen wird, seine Arbeit zu behindern, dass er darauf mit seinem Team eingekesselt wird und nur noch unter Polizeischutz arbeiten kann. Im Nachgang beeilten sich viele Linke zu betonen, dass es geradezu absurd sei, Paul Ronzheimer AfD-Nähe vorzuwerfen. Und das ist es tatsächlich. Allein: Es tut nichts zur Sache. Er hat das Recht, seine Arbeit unabhängig von seiner politischen Gesinnung zu machen.
Die laut Polizeiangaben rund 1000 gewaltbereiten Demonstranten, die für 15 illegale Blockaden und einen verletzten Polizisten verantwortlich sind, haben keine bessere Haltung, keine höhere Erkenntnis, die im Geringsten rechtfertigt, dass sie sich ins Unrecht setzen. Es ist per se auch kein „ziviler Ungehorsam“, was dort praktiziert wurde, denn der beinhaltet, dass man Verantwortung für seine Taten übernimmt. Es sind Feiglinge, die, beseelt vom selbsterklärten antifaschistischen Kampf, ignorieren, dass wir ein demokratischer Rechtsstaat sind.
Wer rechtmäßige Versammlungen vereiteln, sprengen oder verhindern will, muss sich im Klaren sein, dass ihm eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren droht. So legt es das Versammlungsgesetz in § 21 fest. Zweifellos ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit, aber ein gerechtfertigter, wie das Bundesverfassungsgericht in der oben zitierten Entscheidung völlig zutreffend ausführte. Der damalige Beschwerdeführer wollte eine Demonstration von Abtreibungsgegnern verhindern und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Zu Recht, wie nun nach Rechtswegerschöpfung unmissverständlich feststeht. Und das ohne irgendeine Aussage darüber, was den Rechtsanwendern bei Polizei, Staatsanwaltschaften oder Gerichten zum eigentlichen Thema der Ausgangsdemonstration „einfällt“. Wer das nicht aushält, hat ganz grundsätzliche Probleme mit dem Verständnis unserer Rechtsordnung. „Gegen Rechts“ ist kein legitimer Anlass zur Selbstermächtigung.
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Quelle: Freie Demokratische Partei am 06. Dezember 2025
Foto: Wolfgang Kubicki © Laurence Chaperon
