KUBICKI-Kolumne: Ein Orden für die Spaltung

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Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki (Foto) schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:

In den Jahren der Corona-Pandemie hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr bevorzugtes Entscheidungsgremium entdeckt: die Ministerpräsidentenkonferenz, die sich in kurzer Taktung traf oder zusammenschalten ließ und dem wartenden Volk die Leitlinien der Corona-Politik verkündete. Auf den Meter genau entschied das Gremium, welches Maß an Distanz in den folgenden Wochen noch zulässig war oder mit wie vielen Menschen man direkten Kontakt zur gleichen Zeit haben durfte. Wahrscheinlich liebte die Kanzlerin das Gremium auch deshalb so sehr, weil es ihrer in der Außenpolitik eingeübten Arbeitsweise entgegenkam. Diskutiert und gewogen wird hinter verschlossenen Türen, für die Öffentlichkeit ist nur das Ergebnis bestimmt. Das ist ein exekutiver Luxus, den das Grundgesetz für die eigentlich zuständigen Entscheidungsgremien – die Parlamente – nicht vorsieht. Aber Verfassung, Parlament und Föderalismus standen in jenen Jahren nicht hoch im Kurs bei den Entscheidern und Experten. Geradezu neidisch blickte man nach China, wo es ja dann doch ganz andere Möglichkeiten des exekutiven Durchgriffs gegen das Virus gab.

So öffentlichkeitsscheu die Beratungen der Entscheider und Experten in jenen Jahren auch abliefen, so sehr zieht es sie aus anderem Grund ins Scheinwerferlicht. Die Protagonisten jener Jahre verleihen sich jetzt nämlich gegenseitig Preise. Denn eines will man dann doch gegenüber der damals noch ausgeschlossenen Öffentlichkeit klargestellt wissen: Wir haben alles richtig gemacht. Und so traf sich in dieser Woche eine illustre Runde aus jenen Jahren, um dem spiritus rector der deutschen Corona-Politik den Preis umzuhängen, den man sich wahrscheinlich am liebsten selbst gegeben hätte. Und in gewisser Weise hat man das ja auch. Mit von der Partie war beispielsweise Melanie Brinkmann, eine enge Beraterin der Kanzlerin, die einst intensiv dafür warb, das Land in grüne und rote Zonen einzuteilen, zwischen denen kein Reiseverkehr mehr stattfinden dürfe. Rot sollte eine Zone schon bei einer sehr geringen Inzidenz werden. Die Aussicht auf grüne Zonen sei außerdem furchtbar motivierend für die Bürgerinnen und Bürger, sich bei der Pandemiebekämpfung einzusetzen. Das ist nicht identisch, aber auch nicht so weit weg von dem, was die Chinesen versuchten, bis die Strategie unter dem Protest der Bürger eingestellt werden musste.

Apropos furchtbar und apropos China: Der bekennende Ex-Maoist Winfried Kretschmann war es, der die Verleihung der höchsten Auszeichnung des Landes Baden-Württemberg an die Kanzlerin zu verantworten hatte. Er saß mit der Kanzlerin seinerzeit hinter den verschlossenen Türen – gelegentlich flankiert von einigen Expertinnen und Experten wie beispielsweise Christian Drosten, der ebenfalls der Auszeichnung beiwohnte. Kretschmann tat sich in der Corona-Zeit mit einer bemerkenswerten Ehrlichkeit hervor, etwa als er darüber sinnierte, ob es nicht sinnvoller wäre, auch mal unverhältnismäßige Maßnahmen zu treffen. Allein für diese Ehrlichkeit könnte man dem scheidenden Ministerpräsidenten einen Orden umhängen, wenn die Forderung selbst nicht so gnadenlos verfassungsfeindlich gewesen wäre. Das musste er auch einsehen, nachdem ich mir damals erlaubte, diesen Umstand herauszustellen. Er entschuldigte sich.

Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass diese und weitere Eskapaden vergessen sind, setzte Kretschmann in seiner Laudatio zur großen Selbstrechtfertigung an. Es sei falsch zu unterstellen, man habe Grund- und Freiheitsrechte leichtfertig geopfert. Und schon gar nicht, weil man eine Lust am Durchregieren verspürt habe. Man sollte diese Laudatio von Winfried Kretschmann vielleicht einmal mit den Bildern von Polizeiwagen, die jugendliche Kontaktverbotsbrecher durch den Park jagten, unterlegen. Oder mit denen der keuchenden Ordnungskräfte, die auf der Skipiste das Maskengebot kontrollierten. Oder dem Polizeihubschrauber, der Menschen von einer Eisfläche verjagte. Wir erleben immer wieder, dass der Staat das Gewaltmonopol im öffentlichen Raum nur hart erkämpft verteidigen kann. Während Corona ließ die Exekutive Polizisten mit Abstandshölzern durch Versammlungen laufen. Schwer zu glauben, dass nicht die Lust an der Kontrolle die Triebfeder dafür war. Denn so viel steht fest: Eine sinnvolle, effektive und menschenwürdige Pandemiepolitik war es mit Sicherheit nicht.

Menschenwürde war auch ein Stichwort, das Winfried Kretschmann in seiner Laudatio lieferte. Und da musste ich daran denken, wie er mich im Dezember 2021 hart anging, weil ich in einem Interview äußerte, dass der Umgang mit Ungeimpften von dem Gedanken an Rache und Vergeltung getragen sei. Denn auch hier gilt: Eine sinnvolle, effektive und menschenwürdige Pandemiepolitik war es mit Sicherheit nicht. Die Menschenwürdegarantie gilt auch für Ungeimpfte, hielt ich ihm damals entgegen. Der Ausschluss aus dem sozialen Leben, aus sozialer Teilhabe und die von der Politik geforderte und gewünschte soziale Ächtung sind damit nicht in Einklang zu bringen.

Die Merkelsche Corona-Politik hat eine Schneise der Verwüstung in das gesellschaftliche Miteinander geschlagen. Durch Freundeskreise, Familien und Betriebe wurde die Saat des gegenseitigen Argwohns gelegt. Diejenigen, die den „Zusammenhalt“ damals am lautesten im Munde führten, haben am meisten zu dieser Spaltung beigetragen. Dass diese Menschen sich jetzt gegenseitig die Preise dafür verleihen, ist Ausdruck einer schwer verständlichen und kaum zu ertragenden Entkoppelung (ehemals) Regierender von ihren Bürgerinnen und Bürgern.

Und dann gibt es da noch die ganz greifbaren Auswirkungen der ausgezeichneten Corona-Politik: die zerstörten Bildungsbiografien, insbesondere von sozial schwächeren Kindern; die verlorene Schulzeit, die nicht durch Privatinitiative ausgeglichen werden konnte; die steigende Zahl an psychischen Erkrankungen; die Menschen, die in Einsamkeit starben, weil ein übergriffiger Staat der Meinung war, das sei Ausdruck einer besonderen Solidarität.

Und Angela Merkel? Die sprach in ihrer Dankesrede von „demokratischen Zumutungen“ und fand auch Worte des Bedauerns für die Kinder und Jugendlichen. Aber die Entscheidungen seien nicht im „demokratiefreien Raum“ entstanden, sondern viele seien von den Gerichten bestätigt worden. Unabhängig davon, dass es Hunderte Gerichtsentscheidungen gab, die das eben nicht taten: Die Kanzlerin unterliegt hier einem Irrtum, denn Gerichtsentscheidungen sind kein Gegenstand demokratischer Willensbildung, auch wenn sich die geneigte Öffentlichkeit manchmal so verhält. Erst durch die Synthese von Demokratie und Rechtsstaat wird unsere freiheitliche Grundordnung komplett.

Ihre Ausführungen, dass ihr bewusst sei, dass man von den Menschen „Unmenschliches“ verlangt habe, sollten wohl – ihrem „Mutti“-Klischee entsprechend – Verständnis suggerieren. Dabei sollte einer ehemaligen Bundeskanzlerin auffallen, dass eine deutsche Regierung nicht berechtigt ist, „Unmenschliches“ zu verlangen. Aber wie soll so etwas noch auffallen, wenn man sich zur gegenseitigen Selbstbestätigung und Beweihräucherung trifft?

Angela Merkel hat ganz am Anfang der Pandemie den richtigen Ton getroffen und die Bevölkerung eindringlich, aber ohne Panik zu schüren, auf die große Unbekannte namens „Corona“ vorbereitet. Sie hat sich immer mehr davon entfernt. Ihre Politik hat das Land gespalten und verstört zurückgelassen. Das ist nicht preisverdächtig – im Gegensatz zu der traurigen Inszenierung, deren Mittelpunkt sie in Stuttgart war. Das würde immerhin noch für einen Satirepreis reichen.

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Quelle: Freie Demokratische Partei am 13. Dezember 2025

Foto: Wolfgang Kubicki © Laurence Chaperon