Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki (Foto) schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Friedrich Merz hat die Rente reformiert, das Bürgergeld gekippt und das Aus vom Verbrenner-Aus eingeleitet. Das glaubt zumindest Friedrich Merz – und mit ihm noch ein beträchtlicher Teil der Union.
Das ist verwunderlich, denn als Zeitzeugen dieser Umstände wissen wir doch um eine andere Geschichte: An der Rente wurde rein gar nichts reformiert, der Reformdruck wurde durch das Rentenpaket sogar noch gesenkt. Das Bürgergeld hat einen anderen Namen bekommen, aber es handelt sich um keine strukturelle Reform, was schon das minimale Einsparpotenzial zeigt, das die Regierung sich im Gesetzentwurf selbst attestiert. Und das Verbrenner-Aus ist nach wie vor ein zentralistisches Bürokratiemonster aus starren Vorgaben, dessen einzige Flexibilität darin besteht, dass der Automobilbranche minimaler Einfluss darauf gewährt wird, an welchem Bürokratie-Mix sie dann bald zugrunde gehen darf.
Der von Friedrich Merz ausgerufene „Herbst der Reformen“ lässt uns in einem Status quo zurück, der kaum ein Problem dieses Landes auch nur ansatzweise zufriedenstellend angeht. Man muss es in aller Brutalität festhalten: Wenn alles bleibt, wie es ist, wird es bald keinerlei politischen Gestaltungsspielraum mehr geben. Ein überschuldetes Land mit einem gigantischen Haushalt wird kein Geld mehr bewegen können. Man nennt das die „Versteinerung“ des Haushalts. Derweil fallen Monat für Monat etwa 10.000 Arbeitsplätze in der Industrie weg. Die Stimmung in der Wirtschaft ist – freundlich ausgedrückt – mies, und die deutschen Firmen, die noch investieren, tun dies im Ausland.
In dieser Woche rollte in der Gläsernen Manufaktur des Volkswagen-Konzerns in Dresden der letzte Wagen vom Band. Es ist die erste Werksschließung bei VW seit 88 Jahren. Am Standort soll eine Event-Location entstehen. Deutschland verwandelt sich in ein Industriemuseum – und das in atemberaubender Geschwindigkeit. Bestenfalls zumindest. Denn jedes Event will auch bezahlt werden, und wenn der Wohlstand erst einmal verfrühstückt ist, wird auch daraus nichts mehr.
Gleichzeitig bleibt dieses Land in einer kaum mehr erträglichen Lähmung gefangen, die jede Lust an privater Initiative im Keim erstickt. Das gilt für alteingesessene Firmen wie beispielsweise den Landmaschinenhersteller Claas, der nun wegen der Bürokratie entnervt die Planungen für ein neues Werk in Paderborn ad acta gelegt hat. Und es gilt für den Menschenschlag, der dieses Land einst zur wirtschaftlichen Weltmacht gemacht hat: die Tüftler und Macher. Jene wunderbaren Menschen, bei denen Fleiß, Kreativität und Risikobereitschaft nicht nur den eigenen Wohlstand, sondern den ganzer Landstriche mehren.
Die Bundesrepublik Deutschland wäre für Menschen wie Benz, Daimler, Siemens oder Bosch wohl kein günstiger Startpunkt für ihre jeweiligen Erfolgsgeschichten. Die für die Entwicklung des Automobils wichtige, heldenhafte Probefahrt von Bertha Benz von Mannheim nach Pforzheim hätte wohl in Wiesloch ein jähes Ende gefunden. Denn dort musste sie das Fahrzeug betanken und wandte sich an die örtliche Apotheke, wo sie die gesamten Bestände Ligroin aufkaufte. Dieser Stoff fällt heute gemäß Anlage 2 der „Verordnung über Verbote und Beschränkungen des Inverkehrbringens und über die Abgabe bestimmter Stoffe, Gemische und Erzeugnisse nach dem Chemikaliengesetz“ (ChemVerbotsV) unter bestimmte Regulierungen. Was man freilich erst durchschaut, wenn man die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008, auf die Bezug genommen wird, aufmerksam studiert – und dann wiederum feststellt, dass die Abgabe an die tapfere Automobilpionierin nur erfolgen darf, „wenn der abgebenden Person bekannt ist oder sie sich vom Erwerber hat bestätigen oder durch Vorlage entsprechender Unterlagen nachweisen lassen, dass dieser die Stoffe oder Gemische in erlaubter Weise verwenden oder weiterveräußern will und die rechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt und keine Anhaltspunkte für eine unerlaubte Verwendung oder Weiterveräußerung vorliegen“ (§ 8 Abs. 3 ChemVerbotsV). Ob der Apotheker diese Bürokratie auf sich genommen hätte, darf dahingestellt bleiben. Ich denke, die Unterschiede von damals und heute sind deutlich geworden.
Dabei soll diese natürlich etwas launige Abschweifung nicht darüber hinwegtäuschen, sondern lediglich illustrieren, dass Unternehmertum in Deutschland heute mit viel Frust verbunden ist. Der Staat tritt denen, die in diesem Land etwas bewegen wollen, mit wachsender Vehemenz in die Kniekehlen. Und der Frust wächst von Woche zu Woche.
Deutschland ist vom Land des Ermöglichens zum Land des Blockierens geworden. Und das ist die Baustelle, die Friedrich Merz und seine Regierung eigentlich angehen müssten. Nicht nur, weil es notwendig ist, sondern auch, weil er genau dafür gewählt wurde. Ich halte überhaupt nichts von der These, dass der Kompromiss als Selbstzweck das höchste Ziel im demokratischen Prozess sei. Vielmehr ist es wichtig, die Erwartungen, für die man gewählt wurde, gelegentlich auch zu erfüllen.
Die aktuelle Regierung versucht solche Hinweise derzeit mit hastigen Verweisen auf die Weltlage, die jetzt keinen Regierungsstreit zulasse, abzuwürgen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich kann aus Erfahrung sagen: Solche Vorstellungen verlängern höchstens das Elend, schaffen aber noch lange keine handlungsfähige Regierung. Demokratie ist kein Absolutismus auf Zeit, und Rechtfertigungsdruck gegenüber den Wählerinnen und Wählern besteht permanent – nicht nur alle vier Jahre. Daran sollte sich vielleicht auch Friedrich Merz gelegentlich erinnern. Wobei er in so kurzer Zeit derart historische Wortbrüche begangen hat, dass das Vertrauensverhältnis ohnehin kaum wiederherzustellen ist.
Die Regierung sucht ihr Heil derzeit in staatlichen Investitionen. „Ab 50 Prozent Staatsquote fängt der Sozialismus an“, hat Helmut Kohl einst gesagt – und den kann man nun wirklich schwer als libertären Fantasten abstempeln. Er wusste um die Grenzen staatlicher Intervention im Markt, und das, obwohl das Projekt „Aufschwung Ost“ nun wirklich nicht wenige staatliche Ressourcen verschlungen hat. Friedrich Merz kann oder will sich daran nicht erinnern. In der Bild wurde am Mittwoch kommentiert, die öffentlichen Investitionen seien eine Wette darauf, dass der Wirtschaftsmotor wieder anspringe. Das stimmt in gewisser Weise. Merz wettet bei extrem schlechter Quote und mit dem größten Einsatz, der einem Kanzler zur Verfügung steht: der Zukunft dieses Landes. Geht die Wette schief – und dafür spricht leider doch zu viel –, wird es keine Spielräume mehr geben, um dieses Land aufzurichten.
2026 wird mit vielen wirtschaftlichen Hiobsbotschaften starten. Die düstere Regierungserklärung von Friedrich Merz hat den Ton für das kommende Jahr gesetzt. Das war sicherlich kein Fehler. Es war aber unverantwortlich, den Herbst der Reformen erst anzukündigen und ihn dann als Luftnummer zerplatzen zu lassen. Umso wichtiger ist es, dass jetzt keine weiteren Ankündigungen mehr folgen. Alles, was dieses Land jetzt braucht, sind Taten.
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Quelle: Freie Demokratische Partei am 20. Dezember 2025
Foto: Wolfgang Kubicki © Laurence Chaperon
