Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen fĂŒr den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen

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Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung ĂŒberlebenswichtiger, nicht fĂŒr alle zur VerfĂŒgung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.

Die BeschwerdefĂŒhrenden sind schwer und teilweise schwerst behindert und ĂŒberwiegend auf Assistenz angewiesen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde begehren sie einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung ĂŒber die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht fĂŒr alle BehandlungsbedĂŒrftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage. Sie sind der Auffassung, der Gesetzgeber schĂŒtze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung. Der Erste Senat hatte hier einzig zu entscheiden, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, wirksame Vorkehrungen zu treffen, dass niemand in einem Fall einer Triage aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird.

Da der Gesetzgeber solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen hat, hat er die aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hier wegen des Risikos fĂŒr das höchstrangige Rechtsgut Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) folgende konkrete Handlungspflicht verletzt. Der Gesetzgeber muss – auch im Lichte der Behindertenrechtskonvention – dafĂŒr Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird. Er ist gehalten, dieser Handlungspflicht unverzĂŒglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen. Bei der konkreten Ausgestaltung kommt ihm ein EinschĂ€tzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht v. 28. Dezember 2021