Amtspflichtverletzung und Beweislast beim Schusswaffengebrauch der Polizei

Veröffentlicht in: Aus dem Gerichtssaal | 0

Wird jemand durch einen von einem Polizeibeamten abgegebenen Schuss verletzt, so muss der Verletzte beweisen, dass die Polizei durch die Abgabe des Schusses das „Übermaßverbot“ verletzt hat, wenn die Polizei zur AusĂŒbung unmittelbaren Zwangs (Einwirkung auf Personen mittels körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt oder Waffen) berechtigt war. Das hat der 11. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts entschieden.

Zum Sachverhalt: Der KlÀger wurde im MÀrz 2013 in seiner Wohnung in Kiel durch den Schuss einer Polizistin verletzt. Er nimmt das beklagte Land auf Schadensersatz wegen einer Amtspflichtverletzung in Anspruch.

Der KlĂ€ger hatte unter Einfluss von Medikamenten und BetĂ€ubungsmitteln aus dem Fenster seiner Wohnung heraus Nachbarn und Passanten beschimpft. Diese riefen die Polizei und zwar mit dem Hinweis darauf, dass der KlĂ€ger eine Waffe habe. Zwei der herbeigeeilten Polizisten hielten den KlĂ€ger auf dem Hausflur fest, wĂ€hrend ein Polizist und eine Polizistin die Wohnung des KlĂ€gers betraten. Sie entdeckten dort mehrere Waffen, u. a. eine Armbrust mit passender Munition und eine Pistole. Der Pistole war nicht ohne Weiteres anzusehen, dass sie nur zum Verschießen von Kunststoffkugeln geeignet war. Kurze Zeit spĂ€ter konnte sich der KlĂ€ger im Hausflur losreißen, in die Wohnung zurĂŒcklaufen und dort ein Messer ergreifen. Einer der Polizisten im Hausflur rief daraufhin in die Wohnung hinein: „Er hat eine Waffe, weg, weg, weg!“. Dem Polizisten in der Wohnung gelang es noch, aus der Wohnung zu fliehen, bevor der KlĂ€ger die WohnungstĂŒr von innen verriegelte. Die Polizistin, die sich noch in der Wohnung aufhielt, floh in das Badezimmer und zog ihre Dienstwaffe. Nachdem der KlĂ€ger gerufen hatte, er werde alle umbringen, lief er den Wohnungsflur entlang in Richtung Wohnzimmer. Die Polizistin, die sich im Bad aufhielt, gab einen Schuss auf den KlĂ€ger ab, der ihn seitlich links im mittigen Bauchbereich traf. Die Einzelheiten des Geschehens rund um die Schussabgabe sind zwischen den Parteien streitig. Der KlĂ€ger behauptet, er sei im Zeitpunkt des Schusses an der geöffneten BadezimmertĂŒr vorbei in Richtung Wohnzimmer gelaufen, sodass die Polizistin nicht in Notwehr gehandelt habe. Das beklagte Land behauptet demgegenĂŒber, der KlĂ€ger sei auf seinem Weg in Richtung Wohnzimmer in das Badezimmer abgebogen und dort mit gezĂŒcktem Messer auf die Polizistin zugelaufen, bevor diese geschossen habe.

Im Prozess vor dem Landgericht Kiel konnte nicht festgestellt werden, ob die Schilderung des KlĂ€gers oder vielmehr die Schilderung des beklagten Landes zutrifft. Das Landgericht hat das beklagte Land daraufhin u. a. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 22.500 € verurteilt. Es hat angenommen, dass die Beweislast fĂŒr das Bestehen einer Notwehrlage beim beklagten Land liege, weil die Polizistin eine Körperverletzung begangen habe. Da nicht festgestellt werden konnte, dass sich der KlĂ€ger tatsĂ€chlich unmittelbar vor dem Schuss auf die Polizistin zubewegt habe, stehe auch nicht fest, dass eine Notwehrlage vorgelegen habe. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Der KlĂ€ger verlangt ein höheres Schmerzensgeld; das beklagte Land wendet sich gegen die Verurteilung. Die Berufung des beklagten Landes hatte Erfolg. Der 11. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts hat die Klage vollstĂ€ndig abgewiesen.

Aus den GrĂŒnden: Dem KlĂ€ger steht ein Amtshaftungsanspruch gegen das beklagte Land nicht zu. Der Umstand, dass nicht festgestellt werden kann, ob die Schilderung des KlĂ€gers oder vielmehr die Schilderung des beklagten Landes zur Abgabe des Schusses zutrifft, wirkt sich nicht zu Lasten des beklagten Landes, sondern vielmehr zu Lasten des KlĂ€gers aus.

Die Polizistin hatte im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses allen Grund zu der BefĂŒrchtung, dass der KlĂ€ger, der gedroht hatte, sie und ihre Kollegen umzubringen, eine seiner Schusswaffen erreicht haben wĂŒrde, bevor sie ihre eigene Schusswaffe abermals auf den KlĂ€ger wĂŒrde richten können. Die Polizistin war deshalb zur AusĂŒbung unmittelbaren Zwangs und damit zu einem Eingriff in die Rechte des KlĂ€gers berechtigt. Bei dieser Sachlage muss aber der KlĂ€ger beweisen, dass die Polizistin den Schuss nicht hĂ€tte abgeben dĂŒrfen. Diesen Beweis hat der KlĂ€ger nicht gefĂŒhrt. Es ist nĂ€mlich nicht auszuschließen, dass im Badezimmer ein konkreter Angriff des KlĂ€gers auf die Polizistin drohte. Sollte das aber der Fall gewesen sein, dann war der Schuss der Polizistin gerechtfertigt und auch ohne vorherige Warnung zulĂ€ssig und deshalb nicht amtspflichtwidrig. Nach der AnkĂŒndigung des KlĂ€gers, alle umzubringen, war der sofortige Schuss der Polizistin erforderlich, um ihn angriffsunfĂ€hig zu machen und so einen Angriff von ihr abzuwenden. Auf dieser Grundlage ist der Polizistin kein Verstoß gegen das „Übermaßverbot“ vorzuwerfen.

(Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11. November 2020, Az. 11 U 92/20)