Urteil vom 14. Juni 2022 – VI ZR 172/20
Der unter anderem fĂŒr das allgemeine Persönlichkeitsrecht zustĂ€ndige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass das an der AuĂenfassade der Wittenberger Stadtkirche angebrachte Sandsteinrelief – die „Wittenberger Sau“ – nicht entfernt werden muss.
Sachverhalt:
Die beklagte Kirchengemeinde ist EigentĂŒmerin der Wittenberger Stadtkirche, an deren AuĂenfassade sich seit etwa dem Jahr 1290 ein Sandsteinrelief befindet. Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre SpitzhĂŒte als Juden identifiziert werden. Ein ebenfalls durch seinen Hut als Jude zu identifizierender Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Im Jahr 1570 wurde in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften ĂŒber der Sau die Inschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ angebracht. Im Jahr 1983 entschied der Gemeindekirchenrat im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche, das Relief an seinem Ort zu belassen und ebenfalls zu sanieren. Am 11. November 1988 wurde unter dem Relief eine in Bronze gegossene quadratische Bodenreliefplatte mit einer Inschrift eingeweiht. Der Text der Inschrift lautet: „Gottes eigentlicher Name, der geschmĂ€hte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“. In HebrĂ€ischer Schrift ist darĂŒber hinaus der Beginn von Psalm 130 wiedergegeben, der â ĂŒbersetzt – lautet: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Auf einem in unmittelbarer NĂ€he angebrachten SchrĂ€gaufsteller heiĂt es unter der Ăberschrift „Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“:
„An der SĂŒdostecke der Stadtkirche Wittenberg befindet sich seit etwa 1290 ein Hohn- und Spottbild auf die jĂŒdische Religion. SchmĂ€hplastiken dieser Art, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen – Tiere, die im Judentum als unrein gelten – waren besonders im Mittelalter verbreitet. Es existieren noch etwa fĂŒnfzig derartige Bildwerke.
Judenverfolgungen fanden in Sachsen Anfang des 14. Jahrhunderts und 1440 statt, 1536 wurde Juden der Aufenthalt in Sachsen grundsÀtzlich verboten.
Martin Luther veröffentlichte 1543 die antijudaistischen Schriften „Von den Juden und ihren LĂŒgen“ und „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, auf die sich die Inschrift der SchmĂ€hplastik bezieht. Sie wurde 1570 angebracht wie der lateinische Text an der Traufe, der die von Martin Luther angestoĂene Reformation mit der Tempelreinigung Jesu (MatthĂ€us 21) gleichsetzt und gegen „Papisten“ polemisiert.
Das Mahnmal unterhalb der SchmĂ€hplastik wurde im November 1988 enthĂŒllt, fĂŒnfzig Jahre nach dem Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland. Die in Bronze gegossene Bodenplatte zeigt vier gegeneinander verkippte Trittplatten, die aussehen, als seien sie in morastigem Untergrund verlegt. Die Fugen ergeben ein Kreuzeszeichen. Der umlaufende Text verbindet die Inschrift der SchmĂ€hplastik mit dem Holocaust: „Gottes eigentlicher Name / der geschmĂ€hte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.“ Dazu steht in hebrĂ€ischer Schrift der Beginn von Psalm 130: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Die Bronzeplatte entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel. Die Umschrift verfasste der Schriftsteller JĂŒrgen Rennert.“
Der KlĂ€ger ist Jude und Mitglied einer jĂŒdischen Gemeinde in Deutschland. Mit seiner Klage verlangt er von der Beklagten in erster Linie die Entfernung des Sandsteinreliefs; fĂŒr den Fall, dass der Beklagten dies aus DenkmalschutzgrĂŒnden nicht möglich sein sollte, begehrt er hilfsweise die Feststellung, dass das Relief den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beleidigung gemÀà § 185 StGB erfĂŒlle.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des KlĂ€gers zurĂŒckgewiesen. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der KlĂ€ger seine KlageantrĂ€ge weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision hatte keinen Erfolg. Der KlĂ€ger kann von der Beklagten nicht die Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Es fehlt an der fĂŒr einen derartigen Anspruch erforderlichen gegenwĂ€rtigen Rechtsverletzung.
Zwar wies das Relief jedenfalls bis zur Verlegung der in Bronze gegossenen Bodenreliefplatte am 11. November 1988 einen das jĂŒdische Volk und seine Religion massiv diffamierenden Aussagegehalt auf und brachte Judenfeindlichkeit und Hass zum Ausdruck. Es diente zur Zeit seiner Entstehung und auch noch im 16. Jahrhundert, als es durch die Inschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ ergĂ€nzt wurde, dazu, Juden verĂ€chtlich zu machen, zu verhöhnen und auszugrenzen. Das Schwein gilt im Judentum bekanntlich als unrein; in der christlichen Kunst des Mittelalters verkörpert es den Teufel. Den diffamierenden Aussagegehalt hatte das Relief jedenfalls auch noch bis zur Verlegung der Bronzeplatte. Der KlĂ€ger ist auch aktivlegitimiert; er ist berechtigt, den Aussagegehalt des Reliefs gerichtlich zu beanstanden. Isoliert betrachtet verhöhnt und verunglimpft das Relief das Judentum als Ganzes. Durch eine solche Darstellung wird unmittelbar auch der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen. Denn diese Personengruppe ist durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lĂ€sst. Die in dem beanstandeten Relief jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende diffamierende Aussage ist der Beklagten zuzurechnen. Dabei konnte offenbleiben, ob dies allein deshalb der Fall ist, weil die Beklagte das Relief nicht von der Fassade ihres KirchengebĂ€udes entfernt hat. Denn die Beklagte hat sich durch ihren Gemeindekirchenrat im Jahr 1983 entschieden, das Relief im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche an seinem Ort zu belassen und zu sanieren.
Die Beklagte hat den jedenfalls bis zum 11. November 1988 bestehenden rechtsverletzenden Zustand aber dadurch beseitigt, dass sie unter dem Relief eine nach den örtlichen VerhĂ€ltnissen nicht zu ĂŒbersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte mit der oben dargestellten Inschrift enthĂŒllt und in unmittelbarer NĂ€he dazu einen SchrĂ€gaufsteller mit der Ăberschrift „Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“ angebracht hat, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte nĂ€her erlĂ€utert. Aus der maĂgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verstĂ€ndigen Betrachters hat sie das bis dahin als SchmĂ€hung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief – das „Schandmal“ – in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage – wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt – distanziert. Anders als der KlĂ€ger meint, kann der von dem Sandsteinrelief ausgehende rechtsverletzende Zustand nicht allein durch Entfernung des Reliefs beseitigt werden. Auch wenn das Relief von Anfang an und immer nur der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden diente und kaum eine bildliche Darstellung denkbar ist, die in höherem MaĂe im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, gebietet die Rechtsordnung nicht seine Beseitigung. Vielmehr bestand mehr als diese eine Möglichkeit, die von ihm ausgehende rechtswidrige BeeintrĂ€chtigung fĂŒr die Zukunft abzustellen. Die Umwandlung des „Schandmals“ in ein Mahnmal und in ein Zeugnis fĂŒr die Jahrhunderte wĂ€hrende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche ist eine der Möglichkeiten, den rechtsverletzenden Aussagegehalt zu beseitigen.
Aber auch wenn man annĂ€hme, die Beklagte habe sich durch die EnthĂŒllung der in Bronze gegossenen Bodenplatte und die Aufstellung des SchrĂ€gaufstellers noch nicht hinreichend von der im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommenden Aussage distanziert, könnte der KlĂ€ger nicht die – allein begehrte – Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Bestehen, wie im Streitfall, mehrere Möglichkeiten, eine rechtswidrige BeeintrĂ€chtigung fĂŒr die Zukunft abzustellen, muss es dem Schuldner ĂŒberlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt.
Vorinstanzen:
LG Dessau-RoĂlau – 2 O 230/18 â Urteil vom 24. Mai 2019
OLG Naumburg – 9 U 54/19 â Urteil vom 4. Februar 2020
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