Bundeskanzler Scholz im Wortlaut:
Meine Damen und Herren, ich habe den BundesprÀsidenten soeben um die Entlassung des Bundesministers der Finanzen gebeten.
Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von unserem Land abzuwenden. Wir brauchen eine handlungsfĂ€hige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen fĂŒr unser Land zu treffen. Darum ging es mir in den vergangenen drei Jahren. Darum geht es mir jetzt.
Ich habe dem Koalitionspartner von der FDP heute Mittag noch einmal ein umfassendes Angebot vorgelegt, mit dem wir die LĂŒcke im Bundeshaushalt schlieĂen können, ohne unser Land ins Chaos zu stĂŒrzen, ein Angebot zur StĂ€rkung Deutschlands in schwieriger Zeit, ein Angebot, das auch VorschlĂ€ge der FDP aufgreift, das aber zugleich deutlich macht: Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, brauchen wir gröĂeren finanziellen Spielraum.
Mein Angebot umfasste vier Kernpunkte:
Erstens. Wir sorgen fĂŒr bezahlbare Energiekosten und deckeln die Netzentgelte fĂŒr unsere Unternehmen. Das stĂ€rkt den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Zweitens. Wir schnĂŒren ein Paket, das ArbeitsplĂ€tze in der Automobilindustrie und bei den vielen Zuliefererbetrieben sichert.
Drittens. Wir fĂŒhren eine InvestitionsprĂ€mie ein und verbessern noch einmal die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, damit Unternehmen jetzt in den Standort Deutschland investieren.
Viertens. Wir erhöhen unsere UnterstĂŒtzung fĂŒr die Ukraine, die einem schweren Winter entgegengeht. Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf uns ist Verlass.
Ich muss jedoch abermals feststellen: Der Bundesfinanzminister zeigt keinerlei Bereitschaft, dieses Angebot zum Wohle unseres Landes in der Bundesregierung umzusetzen. Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht lÀnger zumuten.
Liebe MitbĂŒrgerinnen und MitbĂŒrger, ich hĂ€tte Ihnen diese schwierige Entscheidung gern erspart, erst recht in Zeiten wie diesen, in denen die Unsicherheit wĂ€chst. In den USA hat Donald Trump die PrĂ€sidentschaftswahl klar gewonnen. Dazu habe ich ihm bereits heute gratuliert. Als deutscher Bundeskanzler ist es fĂŒr mich selbstverstĂ€ndlich, dass ich mit dem kĂŒnftigen PrĂ€sidenten der Vereinigten Staaten gut zusammenarbeiten werde. Gerade in unsicheren Zeiten kommt es auf ein enges transatlantisches VerhĂ€ltnis an.
Klar ist, Deutschland wird seiner Verantwortung gerecht werden mĂŒssen. Wir mĂŒssen in Europa mehr denn je zusammenhalten und gemeinsam weiter in unsere eigene Sicherheit und StĂ€rke investieren. Denn die Lage ist ernst. Es herrscht Krieg in Europa. Im Nahen Osten erhöhen sich die Spannungen.
Gleichzeitig tritt unsere Wirtschaft auf der Stelle. Der schwache Welthandel macht den Unternehmen zu schaffen. Die Energiepreise infolge des russischen Angriffskriegs, die Kosten fĂŒr die Modernisierung unserer Wirtschaft: All das mĂŒssen sie stemmen. Meine GesprĂ€che mit der Wirtschaft zeigen: Unsere Unternehmen brauchen UnterstĂŒtzung, und zwar jetzt.
Wer sich in einer solchen Lage einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden. Immer wieder habe ich in den vergangenen drei Jahren VorschlĂ€ge gemacht, wie eine Koalition aus drei unterschiedlichen Parteien zu guten Kompromissen kommen kann. Das war oft schwer. Das ging mitunter hart an die Grenze auch meiner politischen Ăberzeugung. Aber es ist meine Pflicht als Bundeskanzler, auf pragmatische Lösungen zum Wohle des ganzen Landes zu drĂ€ngen.
Zu oft wurden die nötigen Kompromisse ĂŒbertönt durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen. Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen. Sogar die Einigung auf den Haushalt hat er einseitig wieder aufgekĂŒndigt, nachdem wir uns in langen Verhandlungen bereits darauf verstĂ€ndigt hatten. Es gibt keine Vertrauensbasis fĂŒr die weitere Zusammenarbeit. So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.
Wer in eine Regierung eintritt, der muss seriös und verantwortungsvoll handeln; der darf sich nicht in die BĂŒsche schlagen, wenn es schwierig wird; der muss zu Kompromissen im Interesse aller BĂŒrgerinnen und BĂŒrger bereit sein. Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht. Ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Ăberleben der eigenen Partei. Gerade heute, einen Tag nach einem so wichtigen Ereignis wie den Wahlen in Amerika, ist solcher Egoismus vollkommen unverstĂ€ndlich.
Streit auf offener BĂŒhne hat viel zu lange den Blick auf das verstellt, was diese Regierung gemeinsam vorangebracht hat: Beim Thema irregulĂ€re Migration kommen wir voran. GegenĂŒber dem Vorjahr konnten wir sie zuletzt um mehr als 50 Prozent verringern. Im Einsatz fĂŒr sichere Energie und Klimaschutz machen wir groĂe Fortschritte. Erstmals sind wir auf Kurs, unsere Ausbauziele fĂŒr Windkraft und Solarenergie wirklich zu erreichen. Die Inflation ist auf zwei Prozent gesunken, die Reallöhne und die Renten steigen wieder. Wir haben Deutschlands Energieversorgung gesichert und die Energiepreise stabilisiert. Noch vor einigen Jahren musste fast jeder Vierte im Niedriglohnsektor arbeiten. Heute ist es nur noch jeder Siebte. All das sind gute Nachrichten. All das hat die Regierung aus SPD, GrĂŒnen und auch FDP zusammen erreicht.
Als Bundeskanzler habe ich einen Amtseid geschworen. Dieser Eid hat fĂŒr mich groĂe Bedeutung. Ich halte stets das Wohl unseres ganzen Landes im Blick. Meine feste Ăberzeugung lautet: Niemals, niemals dĂŒrfen wir innere, Ă€uĂere und soziale Sicherheit gegeneinander ausspielen. Das gefĂ€hrdet unseren Zusammenhalt, das gefĂ€hrdet am Ende sogar unsere Demokratie.
Warum sage ich das? Bundesminister Lindner hat ultimativ und öffentlich eine grundlegend andere Politik gefordert: milliardenschwere Steuersenkungen fĂŒr wenige Spitzenverdiener und zugleich RentenkĂŒrzungen fĂŒr alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht anstĂ€ndig, das ist nicht gerecht, Steuergeschenke mit der GieĂkanne und zur Gegenfinanzierung ein Griff in die Tasche unserer StĂ€dte und Gemeinden.
Ein Ausstieg aus Investitionen in die klimafreundliche Modernisierung unseres Landes, auch das will Christian Lindner. Das schĂŒrt Unsicherheit in unserer Wirtschaft und es verspielt unsere Chance, bei den Technologien der Zukunft vorne dabei zu sein. Die USA, China und andere schlafen nicht. Verklausuliert spricht Christian Lindner von der Hebung von Effizienzreserven in unseren Sozialversicherungssystemen. Dahinter aber verbergen sich harte Einschnitte bei Gesundheit und Pflege und weniger Sicherheit, wenn jemand in Not gerĂ€t. Das ist respektlos gegenĂŒber allen, die sich diese Sicherheiten hart erarbeitet haben, gegenĂŒber allen, die Steuern und Sozialabgaben zahlen.
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit fĂŒr Deutschland ist: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf Jahre hinaus tiefgreifend verĂ€ndert. Wir mĂŒssen erheblich mehr in unsere Verteidigung und in die Bundeswehr investieren, ĂŒbrigens gerade jetzt, nach dem Wahlausgang in den USA. 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben bei uns vor dem russischen Bombenterror Schutz gefunden. Das bleibt richtig. Mit bald 30 Milliarden Euro unterstĂŒtzen wir die Ukrainer in ihrem Abwehrkampf. Auch das tun wir deshalb, weil es unseren eigenen Sicherheitsinteressen dient. Ein russischer Sieg kĂ€me uns vielfach teurer zu stehen. Die UnterstĂŒtzung der Ukraine ist und bleibt wichtig.
Ich sage auch ganz klar: Ich bin nicht bereit, unsere UnterstĂŒtzung fĂŒr die Ukraine und Investitionen in unsere Verteidigung zulasten des sozialen Zusammenhalts zu finanzieren, zulasten von Rente, Gesundheit oder Pflege. Beides muss sein, Sicherheit und Zusammenhalt. Deshalb werde ich die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger auch nicht vor die Wahl stellen: Entweder, wir investieren genug in unsere Sicherheit, oder wir investieren in gute ArbeitsplĂ€tze, in eine moderne Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur. Dieses Entweder-oder ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt, entweder die Ukraine unterstĂŒtzen oder in Deutschlands Zukunft investieren – diesen Gegensatz aufzumachen, ist falsch und gefĂ€hrlich. Das ist Wasser auf die MĂŒhlen der Feinde unserer Demokratie.
Vor allem aber ist dieses Entweder-oder auch vollkommen unnötig; denn Deutschland ist ein starkes Land. Unter allen groĂen wirtschaftsstarken Demokratien haben wir mit weitem Abstand die geringste Verschuldung. Es gibt Lösungen, wie wir unser Gemeinwesen und seine Aufgaben solide finanzieren können. Es gibt Lösungen fĂŒr einen Haushalt, der innere, Ă€uĂere und soziale Sicherheit gleichzeitig stĂ€rkt. Eine solche Lösung habe ich vorgeschlagen. Das Grundgesetz sieht in Artikel 115 ausdrĂŒcklich vor, in einer auĂergewöhnlichen Notsituation einen Ăberschreitensbeschluss zu fassen, wie das die Koalition Ende vergangenen Jahres ĂŒbrigens genau fĂŒr diesen Fall vereinbart hatte. Der russische Angriffskrieg, der nun schon im dritten Jahr tobt, sowie all seine Folgen sind eine solche Notsituation. Wenn eine Notsituation vorliegt, dann aber hat die Bundesregierung nicht nur das Recht, zu handeln. Dann ist Handeln Pflicht.
Wie geht es nun weiter? Bundesminister Lindner wird vom BundesprĂ€sidenten entlassen. Mit Vizekanzler Robert Habeck bin ich mir einig: Deutschland braucht schnell Klarheit ĂŒber den weiteren politischen Kurs. Der regulĂ€re Termin fĂŒr die Bundestagswahl im Herbst nĂ€chsten Jahres liegt noch in weiter Ferne. In den verbleibenden Sitzungswochen des Bundestages bis Weihnachten werden wir alle GesetzentwĂŒrfe zur Abstimmung stellen, die keinerlei Aufschub dulden. Dazu zĂ€hlt der Ausgleich der kalten Progression, damit alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab dem 1. Januar mehr Netto vom Brutto haben. Dazu zĂ€hlt die Stabilisierung der gesetzlichen Rente. Dazu zĂ€hlt die schnelle Umsetzung der Regeln des Gemeinsamen EuropĂ€ischen Asylsystems. Dazu zĂ€hlen SofortmaĂnahmen fĂŒr unsere Industrie, ĂŒber die ich derzeit mit Unternehmen, Gewerkschaften und IndustrieverbĂ€nden spreche. Bis zur letzten Sitzung des Bundesrates in diesem Jahr am 20. Dezember sollten diese BeschlĂŒsse gefasst sein.
Gleich in der ersten Sitzungswoche des Bundestages im neuen Jahr werde ich dann die Vertrauensfrage stellen, damit der Bundestag am 15. Januar darĂŒber abstimmen kann. So können die Mitglieder des Bundestages entscheiden, ob sie den Weg fĂŒr vorgezogene Neuwahlen freimachen. Diese Wahlen könnten dann unter Einhaltung der Fristen, die das Grundgesetz vorsieht, spĂ€testens bis Ende MĂ€rz stattfinden.
Meine Damen und Herren, ich werde nun sehr schnell auch das GesprĂ€ch mit dem OppositionsfĂŒhrer, mit Friedrich Merz, suchen. Ich möchte ihm anbieten, in zwei Fragen, gern auch mehr, die entscheidend fĂŒr unser Land sind, konstruktiv zusammenzuarbeiten, bei der schnellen StĂ€rkung unserer Wirtschaft und unserer Verteidigung. Denn unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben, und wir brauchen jetzt Klarheit darĂŒber, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren, ohne dafĂŒr den Zusammenhalt im Land aufs Spiel zu setzen. Auch mit Blick auf die Wahlen in Amerika ist das vielleicht dringender denn je. Es geht darum, jene Entscheidungen zu treffen, die unser Land jetzt braucht. DarĂŒber werde ich mit der verantwortlichen Opposition das GesprĂ€ch suchen.
Liebe MitbĂŒrgerinnen und MitbĂŒrger, als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich weiterhin meine gesamte Kraft dafĂŒr aufwenden, unser Land durch diese schwierige Zeit zu fĂŒhren. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den richtigen Entscheidungen gestĂ€rkt aus dieser Krise herauskommen werden.
Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch hinzufĂŒgen. Ich habe zu Anfang ĂŒber die Notwendigkeit gesprochen, Kompromisse zu schlieĂen. Diese FĂ€higkeit darf uns nicht abhandenkommen. Wer in den vergangenen Wochen in die USA geblickt hat, der hat ein Land erlebt, das tief zerrissen ist, ein Land, in dem politische Unterschiede Freundschaften und Familien zerstört haben, in dem Ideologie die Zusammenarbeit ĂŒber politische Grenzen hinweg fast unmöglich gemacht hat. Das darf uns in Deutschland nicht passieren, gerade weil wir es auch in Zukunft mit Wahlergebnissen zu tun haben werden, die Kooperation und Kompromisse erfordern. Das ist oft mĂŒhsam. Aber genau das hat Deutschland stark gemacht, das zeichnet uns aus. Daran arbeite ich als Ihr Bundeskanzler.
Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung am 06. November 2024
Foto: Bundeskanzler Olaf Scholz (c) SPD
