LINDNER-Interview: Die Demokratie muss jetzt liefern

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Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner MdB gab der „Frankfurter Rundschau“ (Montag-Ausgabe) und „fr.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Christine Dankbar:

Frage: Herr Lindner, Sie sind wie alle Spitzenleute der Parteien gerade viel im Wahlkampf unterwegs. Welche Themen werden Ihnen denn von den Leuten hauptsĂ€chlich entgegengebracht?

Lindner: Zuerst kommen wirtschaftliche Sorgen – entweder um den Job oder um den Lebensstandard. Kein Wunder, wenn Deutschland seit 2019 kein Wachstum hat. Das zweite große Thema ist der Staat, der einerseits immer teurer wird und das Leben bĂŒrokratisiert, aber andererseits daran scheitert, an jeder Stelle und zu jeder Zeit die öffentliche Ordnung zu garantieren und die Einwanderung nach Deutschland zu kontrollieren. Und das dritte Thema ist eine Melange aus den Fragen, warum werden wir bevormundet, gibt es MeinungspluralitĂ€t in den Medien, wie steht es um die Freiheit im Land. Das sind die Top drei in den BĂŒrgergesprĂ€chen.

Frage: Was nennen die Menschen denn dann als Beispiele fĂŒr Bevormundung?

Lindner: Ein Beispiel, das ich gehört habe, ist ein Baggerfahrer, der gerne zehn Stunden baggern wĂŒrde, um mehr Geld zu verdienen, aber aufgrund von Arbeitszeitgesetz und Arbeitsschutz nur acht Stunden baggern darf.

Frage: Okay, das ist aber dann ein SelbststĂ€ndiger. Und den kennen wir schon aus Ihrer Rede beim Dreikönigstreffen in Stuttgart. Viele andere Kolleginnen und Kollegen haben sich danach aber nicht gemeldet, oder?

Lindner: Als SelbstĂ€ndiger hĂ€tte der das Problem mit dem Arbeitszeitgesetz nicht. Und doch, ich höre dazu oft etwas. Aus der Gastronomie zum Beispiel. Oder zu Mindestruhezeiten von Menschen im Homeoffice, an die sich in der Praxis niemand halten mag. Das sind aber ja nur Beispiele fĂŒr die Grundsatzfrage, vor wem da eigentlich wer geschĂŒtzt wird. Es geht um die Rolle des Staates. Wir mĂŒssen den Staatsapparat dort zurĂŒckschneiden, wo er eher lĂ€stig, störend und teuer ist. Damit an den anderen Stellen, wo wir ihn unbedingt brauchen, mehr HandlungsfĂ€higkeit entsteht. Das heißt konkret: Wir brauchen in Bereichen wie Bildung, Infrastruktur, innere und Ă€ußere Sicherheit eher mehr und bei BĂŒrokratisierung, Verwaltung von Verwaltung, Subventionen und Umverteilung deutlich weniger Staat.

Frage: Sie kommen aus einer Regierung, nicht aus der Opposition, daher die Frage: Wenn es in den letzten drei Jahren nicht so richtig geklappt hat mit dem BĂŒrokratieabbau – was macht Sie da optimistisch, dass es beim nĂ€chsten Anlauf klappt?

Lindner: Ich komme nicht einfach aus der Regierung, sondern aus einer Koalition mit zwei staatsorientierten linken Parteien. Etwas erreicht haben wir trotzdem. Planungs- und Genehmigungsverfahren wurden beschleunigt. Die Meseberger BĂŒrokratieabbaubeschlĂŒsse haben etwas gebracht. Aber es war noch lĂ€ngst nicht der Lastabwurf, der nötig ist, damit unser Land sich von seinen Fesseln löst und damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt.

Frage: Da sind Sie sich in der Ampel nicht einig geworden?

Lindner: Nein. Alles, was Arbeitsmarkt, Umwelt, Lieferkette und so weiter angeht, war fĂŒr Rot-GrĂŒn tabu. Die Regierung hat sich da selbst blockiert. Das muss anders werden. Das ist der Grund, warum ich glaube, dass eine politisch sich nĂ€herstehende Koalition wie Schwarz-Gelb hier wesentlich besser wirken könnte als eine, die zu gegenseitigen Limitationen fĂŒhrt. Ich habe die Sorge, dass die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger irgendwann sonst die Sinnfrage stellen, wenn sich nichts Ă€ndert. Aus diesem Grund muss die Demokratie jetzt liefern, damit die Systemfrage in Deutschland nicht aufgeworfen wird.

Frage: Man hört das jetzt öfter, dass diese Bundestagswahl die letzte Chance der demokratischen Parteien ist. Aber es kann doch nicht sein, dass zu viel BĂŒrokratie die Menschen, die in einer ĂŒber 75 Jahre gewachsenen stabilen Demokratie leben, in die Arme rechter Populisten und Hetzer treibt. Ist Ihre Sorge da nicht ĂŒbertrieben?

Lindner: Es geht doch nicht um allein BĂŒrokratie. Es geht darum, dass Menschen Sorge um ihre wirtschaftliche Zukunft haben und vermuten, dass die Politik ihre BedĂŒrfnisse und Forderungen ignoriert, weil sich nichts Ă€ndert. Wenn Menschen das GefĂŒhl haben, der Staat lĂ€sst sie da im Stich, wo sie ihn brauchen, und er tritt da stark auf, wo er lĂ€stig ist, dann werden sie sich an der Wahlurne wehren. Das ist ihr demokratisches Recht. Hinzu kommt dann noch die Auffassung, dass „die in Berlin“ – und damit sind Politik, Medien und VerbĂ€nde gemeinsam gemeint – nicht mehr verstehen, wie der Alltag fĂŒr die meisten BĂŒrger in Deutschland ist. Das ist gefĂ€hrlich und darf sich nicht verstĂ€rken und vergrĂ¶ĂŸern. In Österreich folgt auf Schwarz-GrĂŒn jetzt Blau-Schwarz. In den liberalen Niederlanden gab es einen Rechtsruck, in Frankreich wird er befĂŒrchtet, ab diesem Montag regiert Donald Trump in den USA. Ich verbreite keinen Alarmismus. Ich bin Optimist und bin sicher, wir werden das wenden. Aber das geht nicht von allein.

Frage: Mal kurz zur Wirtschaft. Es gibt von dort viele Forderungen an die Politik, und einige mögen berechtigt sein. Aber wenn man sich VW ansieht, hat man doch den Verdacht, dass die Verantwortlichen dort nicht mitbekommen haben, dass sich ihr GeschĂ€ftsmodell ĂŒberlebt hat. Dass deutsche Autos in China als Großmutter-Fahrzeuge gelten, ist ja ausnahmsweise mal nicht die Schuld von Robert Habeck.

Lindner: Sicher gibt es auch Fehler in der Wirtschaft. Aber wenn mehrere SchlĂŒsselindustrien gleichzeitig in der Krise sind und wir Schlusslicht der G20 beim Wachstum sind, dann handelt es sich um eine generelle StrukturschwĂ€che. Die Politik hat die Automobilindustrie wĂ€hrend der Ära Merkel mit Verbrenner-Verbot, Flottengrenzwerten und Fixierung auf E-MobilitĂ€t auf einen Pfad gefĂŒhrt, der in dieser Einseitigkeit offensichtlich falsch war. VW hat dann noch Managementfehler addiert, weil dieser Konzern nun durch den anteiligen Staatsbesitz und den massiven Einfluss der niedersĂ€chsischen SPD besonders politisiert ist. Wir werden uns alle bewegen mĂŒssen, um wieder erfolgreich zu werden. Politik und Wirtschaft. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Da dĂŒrfen wir nicht DelegationskĂŒnstler sein, wie der Philosoph Peter Sloterdijk einmal die Deutschen charakterisiert hat, nach dem Motto, irgendjemand anders ist immer verantwortlich. Stattdessen kann und muss jeder einen Beitrag leisten.

Frage: Apropos „jeder kann seinen Beitrag leisten“: Die FDP steht in den Umfragen seit Wochen zementiert bei vier Prozent. Man muss sagen, dass sich bei den meisten Parteien nicht viel bewegt. Aber wenn die FDP in die nĂ€chste Regierung will, muss sie zunĂ€chst einmal in den Bundestag kommen, nicht wahr?

Lindner: TatsĂ€chlich ist Ihr Befund richtig, dass sich seit dem Scheitern der Regierung Scholz bei den Umfragen wenig bewegt hat, die Zahlen sind bei allen Parteien geradezu wie eingefroren. Das scheint sich jetzt zu verĂ€ndern.

Frage: Auch fĂŒr die FDP?

Lindner: Gerade bei uns. Alle letzten Umfragen sind gestiegen. Wir waren am Sonntag bei 5 Prozent. Wir haben volle HĂ€user, die Veranstaltungen sind besser besucht als 2021. Wir haben Mitgliederzuwachs seit dem Ampel-Aus und wir haben durch unzĂ€hlige kleine und grĂ¶ĂŸere Spenden einen Rekord bei der UnterstĂŒtzung unserer Kampagne. Bei uns wĂ€chst gerade das Momentum. Da kann noch viel passieren. Wir sind eine Endspurt-Partei. Denn momentan sind viele UnterstĂŒtzerinnen und UnterstĂŒtzer unserer Partei abwartend. Bei der Vier sagten viele, na, ich bin unsicher; wenn da jetzt eine FĂŒnf steht und bald eine Sechs, kann schnell eine Acht oder Neun oder Zehn daraus werden.

Frage: Also Sie haben das Ziel eines zweistelligen Wahlergebnisses noch nicht aufgegeben?

Lindner: Alles ist möglich in der Demokratie. Entscheidend ist aber die strategische Rolle der FDP: Mit der FDP im Bundestag ist Schwarz-GrĂŒn ausgeschlossen. Mit der FDP im Bundestag ist sichergestellt, dass es fĂŒr den Fall einer schwarz-roten Regierung nicht nur Opposition von links und der AfD gibt, sondern dann gĂ€be es auch die Opposition einer demokratisch-liberalen Partei der Mitte. Und das dritte Argument: Es gibt die Chance auf Schwarz-Gelb, womit nicht nur der Kanzler, sondern auch die Politik wechseln wĂŒrde.

Frage: Ihr Wunsch-Koalitionspartner ist in den Zahlen, positiv gesprochen, ebenfalls stabil, was merkwĂŒrdig ist. Jeder wollte die Ampel weghaben und nun, wo es so weit ist, fehlt bei den Konservativen die Aufbruchstimmung. Woran liegt das?

Lindner: Die Union verkörpert gegenwĂ€rtig keinen Politikwechsel, weil sie und Friedrich Merz fĂŒr alles offen ist – bis hin zu einem Wirtschaftsminister Habeck im Kabinett, der jĂŒngst den Sparern auch noch Sozialabgaben auf ihren Aktien-Sparplan aufdrĂŒcken möchte. Nach meiner Überzeugung wĂŒrde die Union genauso wie wir profitieren, wenn es ein klares Bekenntnis zu Schwarz-Gelb als Zielbild gĂ€be. Das Lavieren macht die Union schwĂ€cher. Sobald die Union klarmacht, dass das Ziel mehr ist, als nur ins Kanzleramt zu kommen und das im Zweifel sogar mit den GrĂŒnen, sobald sie das formuliert, hat die Union eine Chance, auch im Wettbewerb mit der AfD WĂ€hler zu gewinnen. Aber wenn das GefĂŒhl ist, es kommt wieder so eine Art Ampel-Zeit, nĂ€mlich Schwarz-GrĂŒn, dann wĂ€hlen viele lieber AfD statt CDU.

Frage: Bleiben wir noch mal kurz bei der Rechtsstaatspartei FDP. Es gibt einen Gruppenantrag zum Paragraf 218, fĂŒr den die Mehrheiten nie so gut standen und der der FDP jetzt doch nicht ganz so wichtig ist. Dabei mĂŒsste es doch auch eines ihrer Kernanliegen sein, dass die Möglichkeit genutzt wird, die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch herauszubekommen und stattdessen ins Schwangerschaftskonfliktgesetz zu integrieren. Warum ist Ihre Fraktion denn da so zögerlich?

Lindner: FĂŒr solche ethischen Fragen brauchen wir eine vertiefte Debatte und das lĂ€sst die Beratungszeit im Deutschen Bundestag bis zum Ende der Wahlperiode gar nicht mehr zu. Deshalb sollte dieses Thema in der nĂ€chsten Wahlperiode mit SensibilitĂ€t, Aufmerksamkeit und Zeit angegangen werden. Dies wĂ€re fĂŒr mich eines der Themen, die eine nĂ€chste Koalition am besten schon von vornherein von einer Koalitionsdisziplin ausnehmen sollte. Sodass in der offenen, nur dem individuellen Gewissen unterworfenen Debatte diskutiert und dann entschieden werden kann.

Frage: Braucht die FDP zu diesem Thema ernsthaft noch eine Debatte? Das ist doch alles lĂ€ngst ausdiskutiert. Was fehlt, ist die Mehrheit, die im nĂ€chsten Bundestag womöglich nicht zustande kommt. Warum warten?

Lindner: Nicht die FDP braucht die Debatte, sondern unsere Gesellschaft. Bei allen großen ethischen Fragen, wie beispielsweise der Sterbehilfe, hat sich das Parlament die Zeit zu ausgiebigen Debatten genommen. Das waren regelmĂ€ĂŸig die Sternstunden des Parlamentarismus, die unterschiedlichen Positionen abzuwĂ€gen. Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen haben sich zusammengetan und quer zu den normalen Konfliktlinien Positionen erarbeitet. Das ist mit den verbleibenden Sitzungstagen des Parlaments gar nicht mehr möglich. Die Frage des Paragrafen 218 ist eine, die eine solche Debatte verdient hat.

Frage: Dann noch mal zu den Ukraine-Hilfen. Es gibt den Vorschlag von Olaf Scholz, fĂŒr die nötigen drei Milliarden Euro einen Überschreitungsbeschluss zu machen. Wie steht die FDP dazu?

Lindner: Unter anderem daran ist ja die Ampel gescheitert. Olaf Scholz hatte ultimativ von mir verlangt, 15 Milliarden Euro neue Schulden an der Schuldenbremse vorbei zu machen, um davon drei Milliarden Euro zusĂ€tzlich an die Ukraine zu geben. Da habe ich mich lieber entlassen lassen. Inzwischen belegt ein aktuelles Rechtsgutachten eines Verfassungsexperten, dass das Vorgehen von Scholz verfassungswidrig gewesen wĂ€re. Das gilt fĂŒr die Neuauflage des Vorschlags sicher genauso. Es handelt sich um ein TĂ€uschungsmanöver. Scholz geht es nicht um die Ukraine. Er will sich als BeschĂŒtzer der deutschen Rentnerinnen und Rentner inszenieren, indem er einen Konflikt zwischen der Rente und Ukraine-Hilfen herbeiredet. Er behauptet ja auch wahrheitswidrig, andere wollten die Renten kĂŒrzen. Das will niemand, und drei Milliarden Euro ĂŒberfordern den Haushalt nicht. Wenn Olaf Scholz diese Debatte einstellt, wĂ€re er fĂŒr uns alle ein Vorbild an sittlicher Reife.

Quelle: Freie Demokratische Partei am 20. Januar 2025

Foto © Christian Lindner