Magdeburg. Eine neue Studie zeigt, dass das RĂŒckenmark weit mehr ist als ein Ăbertragungsweg. Es spielt eine aktive Rolle in der Sinnesverarbeitung.
Forschende des Leibniz-Instituts fĂŒr Neurobiologie (LIN) und der UniversitĂ€tsmedizin Magdeburg konnten in einer wegweisenden Studie zeigen, dass das RĂŒckenmark weit mehr als ein bloĂer Ăbertragungsweg ist, der Sinnesreize aus dem Körper lediglich weiterleitet. Stattdessen kommt es bereits im RĂŒckenmark zu einer Vorverarbeitung von Sinnesreizen. Diese Ergebnisse wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht und könnten langfristig neue AnsĂ€tze fĂŒr die Behandlung neurologischer Erkrankungen ermöglichen.
Das RĂŒckenmark als flexibles Verarbeitungsmodul
âUnsere Wahrnehmung ist immer eine Interpretation, basierend auf unserem Vorwissen und unseren Erfahrungen. Entsprechend ist schon lange bekannt, dass sich die Verarbeitung eines Sinnesreizes im Gehirn je nach Vorwissen verĂ€ndert. Wir konnten nun erstmals zeigen, dass Vorwissen die Reizverarbeitung nicht erst im Gehirn, sondern bereits im RĂŒckenmark verĂ€ndert“, erklĂ€rt der Neurologe Dr. Max-Philipp Stenner, Erstautor der Studie. Die Entdeckung des Forschungsteams erfordere somit eine grundlegende Erweiterung bisheriger Theorien zur Hirnfunktion, wonach das Gehirn als âVorhersagemaschine“ sensorische EindrĂŒcke basierend auf Erwartungen interpretiert.

Von der Klinik ins Labor
Um die Informationsverarbeitung im RĂŒckenmark messen zu können, nutzten die Forschenden ein bewĂ€hrtes Verfahren aus der Schmerztherapie. Dabei werden Elektroden in die NĂ€he des RĂŒckenmarks implantiert, um das RĂŒckenmark elektrische zu stimulieren. Im Rahmen der Studie war diese Stimulation vorĂŒbergehend ausgeschaltet, und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten ĂŒber die Elektroden elektrische Signale aufzeichnen, welche das RĂŒckenmark selbst produziert. âDadurch können wir dem RĂŒckenmark bei seiner eigentlichen Arbeit zuhören“, so Dr. Stenner.
Im Experiment hörten die Teilnehmenden zunĂ€chst einen Ton, auf den nach einem kurzen Zeitraum ein Stromreiz am Handgelenk folgte. Wenn der Zeitraum zwischen Ton und Reiz gleichblieb, konnten die Personen den Reizzeitpunkt anhand des Tons genau vorhersagen. Schwankte der Zeitraum jedoch, war keine genaue Vorhersage möglich. Das Ergebnis: Die Signale im RĂŒckenmark waren schwĂ€cher, wenn der Reiz vorhersagbar war, und stĂ€rker, wenn er ĂŒberraschend kam. Besonders bemerkenswert ist, dass dieser Effekt bereits etwa 13 Millisekunden nach dem Reiz auftrat â noch vor der ersten Reizverarbeitung im Gehirn.
Im Fokus der Studie standen dabei die sogenannten hochfrequenten Oszillationen. âDiese Nervensignale sind eine Art Sprache des RĂŒckenmarks, die bisher kaum erforscht war. Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Signale entscheidend an der kontextabhĂ€ngigen Reizverarbeitung beteiligt sind“, sagt Dr. Stenner.
Um die Ergebnisse zu ĂŒberprĂŒfen, fĂŒhrten die Forschenden ein Ă€hnliches Experiment mit gesunden Personen durch. Hier wurden die Signale nicht-invasiv ĂŒber Elektroden am Hals gemessen. Auch hier bestĂ€tigte sich: Vorwissen beeinflusst die SignalstĂ€rke â und das bereits im RĂŒckenmark.
Meilenstein fĂŒr die Hirnforschung â mit Bedeutung fĂŒr die Klinik
Das RĂŒckenmark ist die erste Station im zentralen Nervensystem, an der Signale aus dem Körper unterhalb des Halses ankommen. Was hier geschieht, beeinflusst die nachfolgende Informationsverarbeitung im Gehirn. âWer verstehen will, wie das Nervensystem Reize verarbeitet, muss das RĂŒckenmark als erste Verarbeitungsstation mit einbeziehen“, sagt Dr. Stenner. Gleichzeitig zeige die Studie, dass das RĂŒckenmark ohne BerĂŒcksichtigung von Kognition nicht vollstĂ€ndig verstanden werden kann.
Die fĂŒr die Studie genutzte Methode ermöglicht eine besonders prĂ€zise Untersuchung der AblĂ€ufe im RĂŒckenmark. Erste Folgestudien befassen sich mit der Frage, wie sich die Reizverarbeitung vor Bewegungen Ă€ndert â Erkenntnisse, die fĂŒr das VerstĂ€ndnis von Bewegungsstörungen wie bei der Parkinson-Krankheit entscheidend sein könnten und langfristig dazu beitragen könnten, neuartige Therapien zu entwickeln.
Dr. Max-Philipp Stenner leitet die Forschungsgruppe Motorisches Lernen am Leibniz-Institut fĂŒr Neurobiologie und arbeitet als Assistenzarzt in der Sprechstunde fĂŒr Bewegungsstörungen der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie Magdeburg. UnterstĂŒtzt wird seine Arbeit von der VolkswagenStiftung im Rahmen eines Freigeist-Fellowships.
Originalpublikation:
âPrior Knowledge Changes Initial Sensory Processing in the Human Spinal Cord“. Max-Philipp Stenner (KNeu und LIN), Cindy Marquez Nossa (KNeu und LIN), Tino Zaehle (KNeu und Medizinische Psychologie), Elena Azañón (KNeu), Hans-Jochen Heinze (ĂD), Matthias Deliano (LIN), Lars BĂŒntjen (KNCh). Science Advances, 12/2024, DOI: https://doi.org/10.1126/sciadv.adl5602
Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. med. Max-Philipp Stenner, Assistenzarzt an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie und Leibniz-Institut fĂŒr Neurobiologie, E-Mail: max-philipp.stenner@med.ovgu.de
Foto: Forschungserfolg aus Magdeburg: Die beiden Studienautoren Dr. med. Lars BĂŒntjen (links), Oberarzt der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurochirurgie, und Dr. med. Max-Philipp Stenner (rechts), Assistenzarzt an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Neurologie Magdeburg und Forschungsgruppenleiter am Leibniz-Institut fĂŒr Neurobiologie Magdeburg, konnten mit ihrem Team in einer aktuellen Studie zeigen, dass das RĂŒckenmark mehr ist als ein Ăbertragungsweg â es verarbeitet aktiv Sinnesreize. (c) Fotografin: Sarah Kossmann/UniversitĂ€tsmedizin Magdeburg
