Die strategisch wichtige Stadt im ukrainischen Bergbaugebiet Donbass steht aus Sicht vieler Beobachter kurz vor dem Fall. Welche Folgen hat eine Niederlage für Kiew – und ein Sieg für Moskau?
In der Ukraine kommt Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nur wegen eines Korruptionsskandals in der Energiewirtschaft in Erklärungsnot. Nach bald vier Jahren des russischen Angriffskriegs gerät er auch immer mehr militärisch unter Druck. An der Südfront im Gebiet Saporischschja musste die ukrainische Armee zuletzt mehrere Orte aufgeben. Nicht verloren geben will Selenskyj aber die seit einem Jahr umkämpfte strategisch wichtige Bergbaustadt Pokrowsk im Gebiet Donezk. Dabei gibt es Kritik, dass Selenskyj aus Angst vor der größten Niederlage dieses Kriegsjahres zu große Verluste in Kauf nimmt. Wenn die strategisch wichtige Stadt fällt, hat das auch Folgen für den Krieg – dazu einige Fragen und Antworten:
Wie ist die Lage in der Stadt Pokrowsk?
Gesichert ist, dass russische Soldaten in der Stadt sind. Sie machten sich zuletzt vor allem das nebelige Wetter zu Nutzen, um mit Fahrzeugen und Technik vorzudringen. In der Stadt, die einmal 60.000 Einwohner hatte, tobt ein Häuserkampf. Ansonsten gehen die Darstellungen der Kriegsparteien auseinander. Die Ukraine spricht von mehr als 300 Russen in der Stadt. Beobachter gehen von deutlich höheren Zahlen und einer weitgehenden russischen Kontrolle über die Stadt aus. Die schwersten Kämpfe toben demnach in deren Industriegebiet.
Die Russen sind von verschiedenen Seiten in die Stadt eingedrungen. Russland behauptet täglich, dort seien ukrainische Truppen umzingelt, der Kreis um sie werde enger geschnürt, die Einheiten würden vernichtet. Täglich meldet Moskau auch eine nicht überprüfbare Zahl neu eingenommener Gebäude. Der ukrainische Generalstab weist zurück, dass Truppen eingekesselt seien. Zugegeben werden Nachschubprobleme bei der Versorgung der Einheiten.
Armeechef Oleksander Syrskyj berichtete Mitte der Woche nach einem Besuch in der Nähe: «Der Kampf geht weiter!» Aufgabe der ukrainischen Truppen sei es, Bereiche der Stadt unter Kontrolle zu nehmen, um Versorgungswege für die Verteidiger zu schützen und auch die Evakuierung von Verletzten zu gewährleisten.
Was bedeutet es, wenn die Ukraine die strategisch wichtige Stadt verliert?
Pokrowsk gilt als Symbol für den Widerstand der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Das Land verlöre dann nach dreieinhalb Jahren Kampf ein weiteres großes Stück im Westen des Gebiets Donezk. Damit wäre auch die Nachbarstadt Myrnohrad nicht mehr zu halten. Es wäre die größte militärische Niederlage seit dem Fall von Awdijiwka im Februar 2024 – auch für Präsident Selenskyj.
Kiew wollte damit auch den USA und den Europäern zeigen, dass die milliardenschweren Waffenlieferungen dem Land helfen, sein Gebiet zu verteidigen. Dagegen bemängeln Kritiker schon lange, die Ukraine habe zu große Verluste riskiert, um Pokrowsk möglichst lange zu halten – statt mit den Ressourcen andere Verteidigungslinien zu verstärken.
Was bedeutet die Eroberung von Pokrowsk fĂĽr Russland und seinen Krieg?
Kremlchef Wladimir Putin käme damit seinem Ziel einer kompletten Einnahme des Donbass ein Stück näher. Allerdings ist es bis zur vollständigen Besetzung des Gebiets Donezk noch ein weiter und verlustreicher Weg für Russland. Militärisch eröffnet die Eroberung von Pokrowsk aber den russischen Truppen den Weg weiter in Richtung der zu Festungen ausgebauten Städte Kramatorsk und Slowjansk.
Dazu könnte der Kreml den Erfolg auch in Richtung des Gebietes Dnipropetrowsk und dem nur 90 Kilometer entfernten Verkehrsknotenpunkt Pawlohrad weiter entwickeln. Der Nachschub der um Kramatorsk und Slowjansk verbliebenen ukrainischen Truppen verläuft zu großen Teilen über Pawlohrad. Im Gegensatz zum dicht besiedelten Bergbaugebiet Donezk finden sich in der flachen agrarisch geprägten Steppenlandschaft nur wenig natürliche Hindernisse.
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Text/Foto: Welt Nachrichtensender am 14. November 2025
